Die Kranken brauchen den Arzt
Serie: | Bibeltext: Matthäus 9,9-13
In den Kapiteln 5 bis 7 seines Evangeliums berichtet Matthäus von der sogenannten Bergpredigt von Jesus. Auf diese bekannte Rede folgen die Kapitel 8 und 9, wo Matthäus berichtet, wie Jesus mit seinen ersten Jüngern durchs Land zieht und wie viele Heilungen geschehen. Da ist ein Aussätziger oder der kranke Diener von einem römischen Hauptmann, die Schwiegermutter von Petrus sowie zwei Besessene, die in Grabhölen hausen. Weiter folgt ein gelähmter Mann sowie eine Frau, die schon seit Jahren an schweren Blutungen leidet. Und sogar die in der Zwischenzeit bereits verstorbene Tochter eines einflussreichen Mannes sowie zwei Blinde und einen Stummen. Es kommt also rund um Jesus etwas in Bewegung! Und Matthäus macht mit seiner Erzählung deutlich: Mit Jesus beginnt etwas ganz Neues!
Und mitten in dieser Reihe von Heilungswundern die da geschehen befindet sich die Erzählung über die Berufung von Matthäus. ==> Predigttext lesen.
Der Zolleintreiber
Ein Zöllner war damals weniger ein Grenzwächter sondern mehr ein Steuereinnehmer. Er hatte von den Römern das Recht gepachtet, für irgend etwas Steuern einzukassieren zum Beispiel Wegzoll für Händler die von einer Provinz des Reiches in eine andere unterwegs waren. Diese Zöllner waren gleich mehrfach unbeliebt. Zum einen zahlen wohl die wenigsten gerne Steuern. Vor allem aber bedeutete es, dass so jemand mit den verhassten fremden Machthabern in Rom zusammenarbeitete. Und nicht selten war es so, dass Zöllner korrupt und bestechlich waren (vgl. die Geschichte von Zachäus, Lk 19,1-10). Aus diesem Grund war für die religiösen Juden zu der Zeit Zöllner und Sünder quasi das selbe. Wer Zöllner war, der galt automatisch als Sünder. Und natürlich würde jeder gute Pharisäer einen Zöllner dazu aufrufen, dass er umkehren solle. Zugleich verachteten die Pharisäer aber die Zöllner.
Ganz anders begegnet nun Jesus dem Zöllner Matthäus. Wir wissen nicht, ob Matthäus Jesus schon früher begegnet ist, ob er von Jesus zumindest gehört hatte. Vielleicht ist es aber auch das allererste Mal, dass Matthäus mit Jesus in Berührung kommt.
Auf jeden Fall reagiert Jesus so ganz anders, als es religiöse Elite Israels zur damaligen Zeit tat. Jesus verachtet ihn nicht! Er fordert ihn auch nicht zuerst auf, sich zu verändern, sich zuerst zu bewähren oder so. Sondern er ruft ihn so wie er ist in die Nachfolge. Jesus spricht ihn direkt an: «Folge mir nach!» Ist das nicht erstaunlich? Nicht zuerst die Aufforderung, dass er umkehren soll von seinem Weg als Sünder. Sondern schlicht die Aufforderung: «Folge mir nach» – offenbar geht Jesus davon aus, dass sich alles andere dann schon regeln wird.
Genauso bemerkenswert finde ich die Reaktion von Matthäus: Er steht tatsächlich auf. Da klingt etwas von «Auferstehung» und Heilung an. Genau wie bei den Wunder unmittelbar vor und nach dieser Begebenheit. Wie beim Gelähmten, der einfach aufsteht der bei der Tochter des Oberen, die vom Tod aufwacht und aufsteht.
Ich gehe davon aus, dass der Zöllner Matthäus von dem hier die Rede ist, der selbe Matthäus ist, welcher auch das Evangelium geschrieben hat. Dass also Matthäus hier seine eigene Berufung schildert (bewusst in der dritten Person, um die Aufmerksamkeit weg von sich und hin zu Jesus zu lenken). Und ich vermute, dass Matthäus seine Berufung auch wie ein «Aufwecken» und wie eine «Heilung» erlebt hat. Er ist aus seinem ungesunden Zöllneralltag durch die Anrede von Jesus aufgewacht und hat sich entschieden aufzustehen und Jesus nachzufolgen.
Interessant ist auch, dass diese Reaktion von Matthäus weitere Kreise gezogen hat. Die Nachricht von dieser Begebenheit muss sich in Windeseile verbreitet haben. Wir wissen nicht wie viel später, ob am selben Tag oder einige Tage später da hat sich Jesus im Haus mit seinen Jüngern zu Tisch gesetzt. Aus den Berichten aus dem Markus- und dem Lukasevangelium wissen wir, dass es das Haus von Matthäus war. Und mit ihnen am Tisch sassen viele andere Zöllner und Sünder. Die waren offenbar neugierig geworden und gekommen um zu sehen, wer dieser Mann ist, der sie als Zöllner und Sünder nicht einfach von sich stösst sondern sogar Gemeinschaft mit ihnen sucht. Vielleicht haben sie sich sogar gedacht: «Wenn Jesus schon den Matthäus aufnimmt, dann macht er vielleicht auch für uns den Weg frei zum himmlischen Vater.»
Die Pharisäer
Doch nicht nur die Zöllner sind gekommen. Auch die Pharisäer haben davon erfahren.
Vielleicht ein Wort zu den Pharisäern. Das Wort kommt von «absondern» und bezeichnet eine religiöse Partei, keinen Beruf. Oft werden die Schriftgelehrten und die Pharisäer in einem Zug genannt. Aber viele Pharisäer waren einfache Bauern und Handwerker. Nur einige übten auch den «Beruf» als Schriftgelehrte aus. Gemeinsam war den Pharisäern, dass sie sehr konservativ eingestellt waren, dass sie das Judentum vor Einflüssen aus der griechischen und römischen Kultur schützen wollten und dass sie – mehr oder weniger stellvertretend für das zum Teil liberal gewordene Volk – die Gebote möglichst genau befolgen wollten. Damit wollten sie vor Gott gut dastehen, ihm dienen und sich selber Verdienste erwerben. Dazu sonderten sie sich oft vom übrigen Volk ab. Dabei entwickelte sich eine gewisse Überheblichkeit gegenüber dem restlichen Volk.
Jesus setzte sich immer wieder mit den Pharisäern auseinander. Von allen politisch-religiösen Parteien zu seiner Zeit standen ihm die Pharisäer theologisch am nächsten. Und so lobt er stellenweise ihr treues Verhalten. Aber ihre Überheblichkeit und Werksgerechtigkeit kritisiert er scharf – gerade auch weil sie oft nur so knapp neben der Wahrheit liegen!
Einige Pharisäer beobachten nun also das Verhalten von Jesus und sind verwundert. Aus ihrer Sicht muss ein Gerechter die Sünder von sich stossen, sich von ihnen fern halten. Doch Jesus zieht die Sünder geradezu zu sich hin!
So wenden sich die Pharisäer an die Jünger – nicht an Jesus direkt – um die Jünger zu warnen. Doch Jesus stellt sich schützend vor seine Jünger. Er beantwortet die Frage gleich selber und er tut es mit einem Bild.
Das Bild vom Arzt
Die Pharisäer achteten, wie gesagt, sehr genau darauf, sich «rein» zu halten. Sie begaben sich quasi in Quarantäne. Denn rein menschlich gesehen ist «Reinheit» ständig bedroht. Sobald etwas Reines von etwas Unreinem berührt wird, wirkt die Unreinheit ansteckend. Das ist wie mit dem sauberen Sonntagskleid und dem Schmutz: Kommen beide zusammen, dann wird das Kleid dreckig und nicht der Schmutz sauber! Oder es ist wie mit einer Krankheit: Der Kranke steckt den Gesunden an und nicht umgekehrt. Dieses Prinzip machen die Reinheitsgebote im AT deutlich: Wer irgend etwas berührt, das zum Beispiel mit dem Tod zu tun hat, der wird unrein und muss sich zuerst wieder reinigen, bevor er in den Tempel oder auch in die Gemeinschaft mit anderen darf.
Aber Jesus sagt, er ist der Arzt. Für einen Arzt macht es keinen Sinn sich in Quarantäne zu begeben. Er würde seiner Aufgabe nicht gerecht werden. Ein Arzt muss zu den Kranken. Im Idealfall heilt der Arzt die Kranken und nicht die Kranken stecken den Arzt an. (Natürlich wissen wir, dass es unter uns Menschen auch umgekehrt laufen kann …)
Wie gesagt: Menschlich gesehen ist Reinheit ständig bedroht. Aber bei Jesus ist es umgekehrt. Was von Jesus berührt wird, das wird rein, das wird heil. In den Abschnitten vor und nach unserer Geschichte sehen wir das deutlich: Jesus berührt Kranke und sie werden gesund – und damit auch rein.
Im Neuen Testament ist Reinheit nicht unwichtig geworden, aber mit Jesus hat sich das Prinzip umgekehrt. Jesus kritisiert nicht die alten Ordnungen und Gebote, denn der Hintergrund ist immer noch der selbe geblieben: Unreinheit und Gott, das geht nicht zusammen. Aber Jesus zeigt, dass mit seinem Kommen etwas Neues angefangen hat, eine neue Möglichkeit mit Unreinheit umzugehen.
Es ist ein bisschen wie in der Medizin mit der Entdeckung von Antibiotika. Zuvor konnte man sich nur vor Ansteckung schützen. Seither kann man entsprechende Krankheiten behandeln, die krankmachenden Bakterien bekämpfen.
Genauso ist es mit Jesus. Jesus hat Gemeinschaft mit den Sündern nicht, weil er ihr Verhalten gut findet! Nein, er findet es schlimm, weil er sieht, dass sie auf ihrem Weg verloren sind. Aber er hat Gemeinschaft mit ihnen, weil er sie heilen will. Weil er weiss, dass die Begegnung mit ihm nicht ihn unrein sondern die Kranken rein macht.
Und darum wendet sich Jesus den Sündern zu, wie sich auch ein Arzt den Kranken und nicht den Gesunden zuwendet. Doch da stellt sich leise die Frage: Wer ist überhaupt gesund? Hätten die Pharisäer die Zuwendung von Jesus nicht genauso nötig? Sie sehen sich als die Gerechten, welche die Gebote Gottes einhalten – und darum bemühen sie sich auch meist sehr ernsthaft. Doch genau darin überheben sie sich gegen die Sünder. Und das wird wiederum zu ihrer Sünde – weil Gott Barmherzigkeit geboten hat!
Die Barmherzigkeit
Den Pharisäern gibt Jesus einen Auftrag mit auf ihren Weg: «Geht und denkt einmal darüber nach, was jenes Wort bedeutet:‹Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer!›»
Opfer sind nicht an und für sich schlecht. Gott hat sie ja selber geboten. Aber sie können zu einem Ersatz werden. Statt das eigene Leben hinzugeben und konnte man auch einfach ein Opfer geben, ohne mit dem Herz wirklich dabei zu sein. Diese Art zu opfern wird schon im AT von den Propheten oft kritisiert. Und diese Kritik führt Jesus fort. Weil Gott sich Barmherzigkeit von uns Menschen wünscht. So wie er uns in Liebe begegnet, so sollen wir einander – und gerade auch den Sündern – in Liebe begegnen.
Das Reich Gottes ist von Barmherzigkeit geprägt. Deshalb feiern Jesus, seine Jünger und seine Sünder-Freunde. Wollen auch wir in diesem neuen Reich dabei sein? Oder wollen wir in die alte Welt zurück, in der wir uns selber zu erlösen versuchen?
Amen.