Der Knecht Gottes
Serie: Jesaja | Bibeltext: Jesaja, 52,13-53,12
Die Situation von Jesaja
Nach dem Tod von König Salomo sind die 12 Stämme Israels in zwei Reiche zerfallen, das Nordreich (auch Israel genannt) und das Südreich (genannt Juda). Das Nordreich wurde 720 von den Assyrern erobert. Das Südreich Juda konnte sich länger halten. Doch auch ihm drohte Gefahr. Rund 130 Jahre später wurde auch Jerusalem durch die Assyrer erobert, die Bevölkerung in zwei Wellen deportiert und der Tempel zerstört. Erst 70 Jahre später konnten die Juden aus ihrem Exil zurückkehren und die Stadt Jerusalem und den Tempel wieder aufbauen.
Der Prophet Jesaja wirkte im Südreich im Umfeld des Königshofes von Jerusalem. Seine Wirkungszeit begann mit seiner Berufung. Das war im Jahre 740 vor Christus, als König Usija starb. Sie dauerte mindestens bis ins Jahr 701, als unter König Hiskia die Stadt Jerusalem durch die Assyrer belagert, aber nicht eingenommen wurde. Das heisst, Jesaja hat den Untergang des Nordreiches mitbekommen und auch die Belagerung der Stadt Jerusalem durch die Assyrer. Die Eroberung von Jerusalem und das Exil hat er aber nicht erlebt. Das fand erst etwa 100 Jahre nach ihm statt.
Warum erzähle ich das? Wenn man das Buch Jesaja als Ganzes liest, dann fällt auf, dass es einen grösseren Bruch im Buch gibt. In den Kapiteln 1 – 39 richtet sich Jesaja an seine Zeitgenossen. Wie wir in den ersten beiden Predigten aus der Serie von Ben schon gehört haben, bekam Jesaja von Gott die Berufung, das Volk zu ermahnen, wach zu rütteln und ihnen zu sagen, dass sie ohne Umkehr im Verderben landen werden. Ihr Verhalten werde eine Strafe von Gott nach sich ziehen.
Aber ab Kapitel 40 richtet sich Jesaja an die Juden, welche sich im Exil befinden. Ihnen spricht er im Auftrag von Gott Trost und Hoffnung zu, dass sie nicht verzagen sollen, weil der Tag ihrer Rückkehr ins verheissene Land kommen wird. Sie bekommen aber auch den Auftrag dann, wenn sie wieder im verheissenen Land sind, ein Licht für alle Völker zu sein.
Nochmals etwas später, in den Kapiteln 56 bis 66, richtet sich Jesaja an diejenigen Juden, die nach dem Exil tatsächlich nach Jerusalem zurück gekehrt sind. Sie ermahnt Jesaja einerseits, dass sie offenbar nichts gelernt haben aus dem Exil und ihren Auftrag, Licht für alle Völker zu sein, nicht wirklich ausführen, sondern sich von den ande- ren Völkern abschotten. Jesaja verheisst aber auch, dass die Knechte Gottes, also diejenigen, welche ihm treu dienen, eines Tages das neue Jerusalem erben werden. Dann werden die Völker eingeladen, sich Gottes Bundesfamilie anzuschliessen.
Der Knecht
Heute geht es um den sogenannten «Knecht Gottes». Zunächst möchte ich das Wort «Knecht» genauer anschauen. Das hebräische Wort «ebed» hat eine sehr grosse Breite an Bedeutungen. Es kann «Sklave» bedeuten, aber auch «Diener» oder «Untertan». Es kann politisch verwendet werden als «Beamter» bis hin zum «Generalbevollmächtigten». Die jeweilige Bedeutung hängt vom Zusammenhang ab. Gemeinsam ist allen Bedeutungen, dass es um einen Dienst gegenüber jemand Höhergestellten und um Zugehörigkeit geht. Im Alten Testament wird das Wort auch verwendet, wenn jemand aus Höflichkeit sich selber als «Knecht» seines Gegenübers bezeichnet. So nennt sich Jakob bei seiner Rückkehr als «Knecht» seines Bruders Esau (1.Mo 32,5).
In der Beziehung zu Gott drückt «Knecht» immer ein Verhältnis besonderer Zugehörigkeit aus. Das Volk Israel befand sich in einem Umfeld, wo rundum viele andere Götter verehrt wurden. Da war es sehr wichtig, klar zu bekennen, wessen «Knecht» man ist, also welchem Gott man gehört und dient. Und so können im Alten Testament die Teilnehmer des Gottesdienstes oder überhaupt das ganze Volk Israel als «Knechte Gottes» bezeichnet werden. Etwa im Psalm 113,1: «Halleluja! Lobet, ihr Knechte des Herrn, lobet den Namen des Herrn!» Anderseits werden vor allem auch besondere Männer Gottes als «Knecht Gottes» bezeichnet, etwa die Väter Abraham, Isaak und Jakob, oder die Anführer Mose und David, oder auch verschiedene Propheten. Die Wendung «Knecht Gottes» kann also im Alten Testament entweder eine einzelne, herausragende Person meinen, die in besonderer Weise Gott dient. Oder aber auch das ganze Volk bzw. der Teil des Volkes, der treu zu Gott hält.
Wenn nun bei Jesaja in besonderer Weise vom «Knecht Gottes» die Rede ist, dann sollten wir beides vor Augen halten – nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung. Dahinter steht der Gedanke der Stellvertretung: Israel hat als ganzes Volk einen Auftrag, eine Berufung von Gott als «Knechte Gottes». Doch letztlich konnte nur ein einzelner «Knecht Gottes» diesen Auftrag erfüllen. Und wiederum: bis heute sind wir als Nachfolger des einen «Knecht Gottes» dazu berufen, «Knechte Gottes» zu sein.
Die Gottesknechtslieder
Zurück zu Jesaja. Die vier Texte, in denen der Knecht Gottes vorkommt bei Jesaja, die werden auch «Gottesknechtslieder» genannt und sie finden sich alle in diesem mittleren Teil des Buches, der sich an die Juden im Exil richtet.
Im ersten Text (Jes 42,1–9) wird der Gottesknecht vorgestellt. Gott hat ihn gesandt, um das Recht in der Welt aufzurichten. Dabei geht er nicht gewaltsam vor, sondern fürsorglich:
«Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.» Jesaja 42,1-4 (Luth17)
Im zweiten Text (Jes 49,1–6) wird deutlich, dass der Knecht Gottes nicht nur zum Volk Israel gesandt ist, dass er nicht nur die Israeliten wieder aus dem Exil sammeln soll, sondern dass er als Licht für alle Völker gesandt ist:
«Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.» Jesaja 49,6 (Luth17)
Im dritten Text (Jes 50,4–9) dann erfahren wir, dass der Knecht leiden wird. Wir erfahren aber auch, dass er auf Gott hört und gehorsam ist.
«Gott der HERR weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.» Jesaja 50,4-5 (Luth17)
Der vierte und längste Text (Jes 52,13 - 53,12) über den Knecht Gottes ist zugleich auch der bekannteste. Verschiedene Ausleger haben ihn auch «das Evangelium des Alten Testamentes» genannt. ➡ Jesaja 52,13 - 53,12 lesen.
Prophetie auf Jesus
Das ganze Alte Testament weist immer wieder mehr oder weniger direkt auf Jesus Christus hin. Doch hier finden wir den Höhepunkt dieser Hinweise. Die Prophetie von Jesaja in Bezug auf den Gottesknecht ist in Jesus Christus zu ihrer Erfüllung gelangt. Ein paar der Prophezeiungen möchte ich herausgreifen.
«Er hatte keine Gestalt und Hoheit» – Jesus kam in einem unbedeutenden Dorf zur Welt, wurde in Windeln gewickelt und eine Futterkrippe gelegt. Hirten, Angehörige der untersten Gesellschaftsschicht besuchten ihn.
«Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.» – Die Menschen zur Zeit von Jesus hatten ihre Vorstellung, wie der Messias in Erscheinung treten sollte – Jesus kam ganz anders und das hat vielen Juden nicht gefallen.
«Er war [...] voller Schmerzen und Krankheit.» – Jesus hat Menschen von Krankheit geheilt. Er hat die Krankheit und Schmerzen auf sich genommen und ans Kreuz getragen – so war er voller Schmerzen.
«Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch sei- ne Wunden sind wir geheilt.» – Das ist das Zentrum des Evangeliums schlechthin!
«Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf» – als Jesus vor dem Hohepriester verhört werden sollte, da schwieg er, ebenso auch später, als er vor der Kreuzigung noch gequält wurde.
«Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und lange leben» – Nachkommen hat Jesus, indem er unzählig viele Nachfolger hat.
«Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben.» – Jesus ist aus dem Reich des Todes wieder aufgestanden und hat somit das Licht wieder gesehen. Mit dem Aufstieg in den Himmel an Auffahrt kehrte Jesus zurück in die Herrlichkeit und Fülle beim Vater.
Gott ist treu
Ich finde den Aspekt der Zeit sehr spannend in diesem Zusammenhang. Gott hat Jesa- ja Verheissungen geschenkt, die für Menschen bestimmt waren, die dann erst 150 bis 200 Jahre später gelebt haben. Er tröstet die Menschen im Exil damit, dass sie eines Tages wieder ins Land zurückkehren werden. Und das erfüllt sich dann auch tatsächlich. Doch heute, rückblickend können wir sagen, dass sich die Prophetien die Jesaja von Gott erhalten hat, erst rund 500 Jahre später im tieferen Sinne erfüllt haben, als Jesus Christus am Kreuz für uns gestorben ist. Und nochmals anders betrachtet können wir auch sagen, dass die letztendliche Erfüllung noch immer aussteht. Die vollständige Heilung, den umfassenden Frieden, den Schalom, und die vollständige Aufhebung der Trennung von Gott, also so, dass wir ihn von Angesicht zu Angesicht sehen können, wird erst noch kommen.
Das heisst, die Prophetie von Jesaja hat durch die Zeit hindurch immer wieder aufs Neue Gewicht und Bedeutung erhalten. Sie hat Menschen durch all diese Zeiten hindurch ermahnt aber vor allem auch unglaublich tief ermutigt. Und genau das dürfen und sollen die Lieder vom Gottesknecht und die ganze Botschaft von Jesaja auch mit uns heute machen.
Amen.